Wer Whisky trinkt, trinkt auch immer ein Stück Geschichte. Nicht nur, weil guter Whisky viele Jahre reifen muss, sondern auch, weil Destillerien ihr Produkt oft auf Grundlage ihrer Geschichte bewerben. Und am Ende auch verkaufen. Nur leider entsprechen diese Geschichten, diese Stammbäume, nicht immer der ganzen Wahrheit. In einigen Fällen ist ein “Established 1832” oder ein “Since 1876” bestenfalls eine Werbegeschichte – ein Stammbaum ohne Wurzel.
Legt man die Werbung beiseite und hinterfragt die Jahreszahlen zur Gründung einer Brennerei, kann man zu ganz anderen Schlüssen kommen. Um Missverständnissen vorzubeugen, ist hierbei allerdings eine Definition des Begriffes “Gründungsdatum” wichtig. Ist es der Zeitpunkt, ab dem eine Brennerei an einer festen Stelle produziert hat? Immerhin sind viele Brennereien nach nahe gelegenen Orten benannt. Oder ist es eher die kontinuierliche Nutzung der technischen Ausrüstung? Wird eine Brennerei erweitert, versucht man ja in der Regel die Form der Brennblasen zu kopieren, um den Charakter des Destillates nicht zu verändern. Eventuell spielt auch das Datum der ersten Lizenzierung, also des legalen Brennens, eine Rolle. Wer will schließlich schon damit hausieren gehen, dass sein Geschäft illegale Wurzeln hat? Oder geht es bei der Gründung am ehesten um den Gründer, die Weiterführung seines Namens bzw. die Besitzverhältnisse?
Wie man sehen kann, ist es sehr schwer, hier eine klare Linie zu ziehen. Eine offizielle Definition, beispielsweise von der Scotch Whisky Association (SWA), gibt es nicht. Einige Brennereien nutzen diese Grauzone dementsprechend auch gerne aus, um sich älter zu machen, als sie eigentlich sein dürften. Es ist eben eine Definitionssache. Oder in manchen Fällen eine Frage korrekter, nicht widerlegbarer Recherche.
Beispiele gefällig?
Glenturret – “Established 1763”
Die Brennerei nennt das Jahr 1763 als ihr Gründungsjahr und will damit die (wohl) älteste arbeitende Whiskybrennerei Schottlands sein. Dabei bezieht man sich auf ein Pachtdokument, das von Sir Patrick Murray of Ochtertyre, Baron und Großgrundbesitzer in der Gegend des Glen Turret, für die Thurot Distillery ausgestellt wurde. Man sieht also Thurot als direkten Ursprung des heutigen Tuns. Kann das aber korrekt sein? Meiner Meinung nach ist das sehr unwahrscheinlich.
Im Tal des Turret ist illegales Brennen schon ab dem Jahr 1717 durch Gemeindeaufzeichnungen (Parish Records) dokumentiert. Ähnlich wie im Tal des Livet (Glen Livet… dazu komme ich noch) gab es dort schon im 18. Jahrhundert eine Vielzahl von Brennereien. Man muss aber davon ausgehen, dass diese nur kleine Farmbrennereien waren und im Wesentlichen für den Eigenbedarf brannten.
Eine dieser war, nach dem Erlassen profitablerer Brenngesetze im Jahre 1775, die Brennerei auf der Hosh Farm, die in diesem Jahr erstmals Steuern zahlte. Interessanterweise hat Glenturret bis vor nicht allzu langer Zeit auch die Zahl 1775 als ihr Gründungsdatum genutzt. Das hat man nun geändert. Doch gibt es keinen Hinweis auf eine Verbindung zwischen Hosh und Thurot. Jedenfalls keinen anderen als die gemeinsame Lage im Tal des Turret. Alles andere ist Spekulation. Oder Marketing.
Um das Verwirrspiel weiter zu treiben und die Komplikationen der Namen noch besser zu verdeutlichen, nahm die heutige Glenturret Brennerei ihren Namen erst im Jahre 1875 unter ihrem neuen Besitzer Thomas Stewart an. Vorher gab es aber noch (mindestens) eine weitere Brennerei mit gleichem Namen am Turret. Diese ging spätestens 1812 als “Hoshmill” (oder “Hosh Mill”, nicht zu verwechseln mit der “Hosh Farm”!) in Betrieb und wurde ab 1826 Glenturret genannt. Geschlossen wurde sie um 1850. 1865 war dann gar eine “Glenturret Farm” registriert, verpachtet an Peter McCallum. Ob oder was diese Farm mit Hosh oder Hoshmill oder gar mit Thurot zu tun hatte, ist unbekannt. Es ist verwirrend.
Es kommt aber noch ein wenig schlimmer für die Wurzeln und die Geschichte von Glenturret. 1921 wurde die Produktion ausgesetzt und die Gebäude nur noch als Farm genutzt. Nach der Liquidation der damaligen Besitzer David und William Mitchel im Jahre 1929 wurde gar die Brennausrüstung zerlegt und entfernt. Erst 1959 ging es unter der Leitung von James Fairlie nach einer grundlegenden Renovierung mit neuen Stills und Mash Tuns, die von Tullibardine kamen, für Glenturret weiter.
Welches Datum kann sich Glenturret also mit gutem Gewissen auf den Briefkopf drucken lassen? 1763 kaum. 1775 lässt sich mit viel Phantasie vertreten. Allerdings wäre 1959 aus technischer Sicht am ehesten gerechtfertigt. Und wer sich noch etwas eingehender mit dem Stammbaum von Glenturret beschäftigt, wird weitere Ungereimtheiten darin feststellen können. Das würde hier aber zu weit führen.
Glenlivet – “Established 1824”
Liest man sich die Geschichte von Glenlivet auf der Homepage der Brennerei durch, steht dort unter anderem, dass ihr Gründer, George Smith, als erster legaler Whiskybrenner in der Gegend des Glenlivet bereits 1824 eine Brennlizenz erhielt. Das entspricht der Wahrheit, nur leider nicht der gesamten Wahrheit über die Wurzeln der Brennerei. Ab 1824 hatte Smith zwar seine Lizenz, doch es gab noch keine Brennerei mit dem Namen “Glenlivet”, es gab nicht einmal eine Brennerei an der Stelle, wo wir Glenlivet heute besuchen können. Aber der Reihe nach…
1774 begann Georges Vater Andrew mit dem Brennen von Whisky in seiner neuen Brennerei in Drumin (oder Drummin) bei Blairfindy. Diese erbte George und führte die Geschäfte seines Vaters ab 1817 weiter. Im Laufe der nächsten 30 Jahre kaufte George angrenzende Farmen hinzu (Castleton, Nevie, Minmore, Delnabo… letztgenannte mit bestehender Brennerei), sah aber 1855, dass seine Brennereien Drumin und Delnabo die Nachfrage nach seinem Whisky nicht decken konnten.
1858 begann er daraufhin zusammen mit seinem Sohn John Gordon (J.G.) den Bau einer neuen, größeren Brennerei im gleichnamigen Minmore, die er mit Geräten aus Drumin und Delnabo ausrüstete. Nach dem Tod von George Smith im Jahre 1871 übernahm der Sohnemann die Minmore Brennerei und nannte sie 1880 Glenlivet. J.G. setzte 1884 auch gerichtlich durch, dass keine andere Brennerei im Tal des Livet den Namen Glenlivet (ohne Anführungszeichen) führen darf. Das traf bei den lokalen Mitbewerbern aufgrund der seinerzeit schon bestehenden Werbekraft des Namens natürlich auf wenig Gegenliebe, doch das ist eine andere Geschichte.
Auch hier sei also die Frage erlaubt, ab wann es Glenlivet denn nun wirklich gab. Auch wenn es sich um den gleichen Besitzer handelte, dürfte die beschriebene aus-2-mach-1-Aktion die Antwort eher in Richtung 1858 als nach 1824 lenken. Aber die Geschichte ist natürlich besser zu vermarkten, wenn man sagen kann, dass Smith als “first mover” direkt nach 1823 mit der Legalisierung des Whiskybrennens in den Highlands Glenlivet ins Leben rief. Naja, immerhin erwähnt man, dass er zuvor an gleicher Stelle schwarz brannte – und das nicht ohne einen gewissen Stolz.
Glendullan – “Established 1897”
Bei Glendullan hat der Besitzer Diageo das Stammbaumprinzip von Glenlivet noch um einen Ast erweitert: aus-2-mach-1 wird zu aus-1-mach-2-mach-1. Die kurzgefasste Geschichte der Brennerei verläuft wie folgt: 1897 gegründet, 1926 an Distillers Company Ltd (DCL, Vorläufer von Diageo) verkauft, 1940 geschlossen für 7 Jahre, 1962 erweitert. So weit, so gut.
Dann aber kam das Jahr 1972, als ein anderer Vorgänger von Diageo sich dazu entschied, auf dem Gelände der Glendullan Brennerei ein weiteres Brennhaus zu errichten. Glendullan B, sozusagen, aber offiziell mit dem gleichen Namen wie sein Nachbar. Hier liegt wohl auch der Unterschied zu ähnlichen Fällen wie Glen Grant / Caperdonich oder Brora / Clynelish, die eben einen Grenzzaum zwischen sich hatten – oder mehrere. Für Glendullan war es rechtlich also nicht notwendig einen neuen Namen zu erfinden.
Ab 1972 wurde bei Glendullan also Whisky auf zwei eigenständigen Anlagen zeitgleich destilliert. Das Destillat der beiden Anlagen wurde trotz der unterschiedlichen Charaktere miteinander vermischt – im Gegensatz zu den beiden vorgenannten Brennereipaaren. Spitzfindig könnte man sagen, dass hier kein Single Malt mehr produziert wurde, sondern aufgrund der beiden eigenständigen Brennanlagen allerhöchstens ein Vatted Malt.
1985 entschied Diageo dann, Glendullan A zu schließen – womöglich weil eine Renovierung nicht rentabel gewesen wäre. Ab diesem Zeitpunkt brannte man Whisky also nur noch mit den neueren Brennblasen von Glendullan B. Wichtig ist allerdings, dass das Ergebnis immer noch unter dem Namen Glendullan verkauft wird. Glendullan A gilt nicht einmal als geschlossene Brennerei. Es gibt nur Glendullan. Juristisch ist das wohl korrekt, doch hat es einen faden gustatorischen Beigeschmack, der am Ende auch das Gründungsdatum fraglich erscheinen lässt.
Hier bedient man sich scheinbar eines Best-of der vorgenannten Brennereien: (Il)Legaler Betrieb, Abriss, Neubau und Erweiterung(en). Es wird Peter Brown zwar nachgesagt, Linkwood in der Tat bereits 1821 gegründet zu haben, doch der legale Betrieb begann mit Sicherheit erst 1825. Es ist nicht gesichert, dass er es vor diesen Zeitpunkt schon wagte, illegal Whisky zu brennen.
Nach dem Tod seines Vaters Peter, hat William Brown die Brennerei 1872 abgerissen, um sie geräumiger und nach mehr oder weniger eigenen Ideen wieder aufbauen zu lassen. In einem zeitgenössischen Zeitungsartikel wird zitiert, dass der Whisky der neuen Brennerei dem alten Whisky “geschmacklich ziemlich gleich” sein soll. Man könnte sich im Sinne eines gesunden Stammbaumes über ein bestimmtes Wort in dieser Aussage wundern.
Im Jahre 1962 musste Linkwood wegen Platzmangels wiederum einem Neubau weichen, die alten Brennblasen wurden aber exakt nachgebildet. 1971 wurde gegenüber den bestehenden Gebäuden ein komplett neues Brennhaus (Linkwood B) mit 4 neuen Brennblasen gebaut, um die prognostizierte Nachfrage decken zu können. Ähnlich wie bei Glendullan. Linkwood A wurde allerdings nur noch als Versuchsbrennerei betrieben, um den Einfluss von Kupfer, Rückfluss oder Worm Tubs erforschen zu können. 2012 wurden die alten Gebäude dann im Rahmen einer weiteren Modernisierung endgültig abgerissen und Linkwood B erhielt 6 neue Washbacks und 2 zusätzliche Brennblasen.
Man muss den Eignern von Linkwood (Diageo) ja zu Gute halten, dass sie nur schreiben, dass Linkwood 1821 gegründet wurde. Sie sagen ja nicht, dass die Brennerei da auch schon produzierte. Oder dass trotz aller baulichen Änderungen mehr als nur der ursprüngliche Name übrig geblieben ist. Um mehr aus dieser Aussage herauslesen zu können, müsste man sich schon mit der Geschichte der Brennerei auseinander setzen. Doch wer macht das schon?
Loch Lomond – “Established 1814”
1814. So alt soll die Loch Lomond Destillerie am gleichnamigen schottischen See sein. Das ist sie vermutlich auch, doch über welche Loch Lomond Destillerie reden wir dann eigentlich? Die mit dem Gründungsdatum 1814 lag in Arrochar in der Nähe von Tarbet am Nordende des Sees.
Die heutigen Brennerei wurde erst 1964 gegründet und liegt am südlichen Ende des Sees am River Leven in der Stadt Balloch. Was die beiden gemeinsam haben? Nun, gesichtert ist eigentlich nur, dass sie den gleichen Namen haben und beide am Loch Lomond gelegen sind. Denn von der ursprünglichen Brennerei in Arrochar ist kaum etwas überliefert, nicht einmal der Name des Gründers. Auch unser Wissen über ihre Schließung im Jahre 1817 gründet eher auf Vermutungen als auf nachweisbaren Fakten.
Dennoch schmückt sich die aktuelle Loch Lomond Brennerei mit der Jahreszahl 1814. Einer Jahreszahl, die vermutlich schon 1817 oder wenigstens nicht lange danach wieder obsolet war. Was also verbindet diese beiden Brennereien? Die gleiche Ausrüstung zum Brennen? Bestimmt nicht. Die gleiche Lage? Auch nicht. Der gleiche Besitzer oder dessen Nachfahren? Nein. Der Name? Ja – clever gewählt, nicht wahr?
Diageo… wieder einmal. Aber wem sagt schon der Name “Lyne of Rutherie” etwas. Das war der ursprüngliche Name von Benrinnes. Diese Brennerei gab es tatsächlich seit 1826. Sie wurde von einem gewissen Peter MacKenzie auf der Whitehouse Farm in Aberlour gegründet. Doch halt! Sie wurde schon 1829 von einem Hochwasser unbrauchbar gemacht.
John Innes begab sich daraufhin, Lyne of Rutherie neu zu errichten. Jedoch kaum mit der gefluteten Brennausrüstung und auch nicht an der Stelle, an der die Brennerei ursprünglich stand, sondern ein paar Meilen weiter – vermutlich in einem hochwassersichereren Gebiet.
Dennoch wird behauptet, dass Benrinnes im Jahre 1826 gegründet wurde. Zwar nicht ausdrücklich von Diageo, aber diese geschönte Geschichte wird immer wieder ausgegraben und in Büchern oder im weltweiten Netz weiter erzählt. Nur sind die Geschichtenerzähler damit alle ein paar Jahre zu früh dran.
Ja, 1817 wurde von Captain Hugh Munro tatsächlich eine Brennerei mit dem Namen “Teaninich” in Alness gegründet. Ja, diese Brennerei war – mit ein paar Unterbrechungen – bis 1984 aktiv. Doch irgendwann wurde auch diese Brennerei von Distillers Company Ltd, dem Vorläufer von Diageo, übernommen, und die Geschichte verlief ähnlich wie bei Glendullan.
1970 wurde neben der bestehenden Brennerei ein neues Brennhaus mit 6 neuen Brennblasen erbaut. Diese arbeiteten bis 1984 zusammen mit den 4 alten Brennblasen. Zu diesem Zeitpunkt beschloss DCL, die alten Brennblasen erkalten zu lassen. Man legte 1985 auch die neuen Brennblasen still, und nahm sie 1991 erst wieder in Betrieb. 1999 wurde dann die alten Gebäude abgerissen.
Auch bei Teaninich ist es nicht Diageo, die offiziell behaupten, dass die Brennerei im Jahre 1817 gegründet wurde. Doch kaum eine andere Quelle macht sich die Mühe, die Geschichte der Brennerei korrekt zu erzählen. Überall liest man “Gegründet: 1817”. Doch nur der Name stammt aus diesem Jahr, der Whisky kommt seit 1984 aus ganz anderen Brennblasen.
Wie man sehen kann, sind Stammbäume und Angaben von Gründungsdaten einer Brennerei mit Vorsicht zu genießen. Jedenfalls wenn man gesteigerten Wert auf den Wahrheitsgehalt einer solchen Information legt. Wer seinen Whisky einfach nur mag, wird eher kein Problem mit zweifelhaften Werbeaussagen haben.
Ich finde es jedoch bedenklich, dass man sich die Welt ein wenig so macht, wie sie einem gefällt. Spätestens dann, wenn der Whisky im Laufe der Zeit geschmacklich erheblich verändert wurde. Nicht umsonst legen viele Brennereien einen großen Wert auf die geschmackliche Kontinuität ihres Whiskys, auch und gerade bei Umbauten und Erweiterungen. Das kann man ihnen nicht hoch genug anrechnen.
Whisky ist eben immer ein Stück flüssige Geschichte im Glas. Wenn der Stammbaum dann noch gesunde Wurzeln hat, ist es um so schöner.